Bewertungsmaßstäbe für die Fahreigenschaften

Das scheinbar so simple Gebilde eines Fahrradrahmens ist in Wirklichkeit eine komplexe Konstruktion mit vielen Einflussfaktoren. Dabei variieren die Anforderungen an die Fahreigenschaften eines jeweiligen Rahmentyps erheblich. Klar, dass an ein Hollandrad andere Maßstäbe angelegt werden als an ein Rennrad. Und bei der individuellen Beurteilung der Fahreigenschaften eines bestimmten Rades/Rahmens spielen sowohl objektive Faktoren als auch subjektive Eindrücke eine Rolle.

Die bestimmenden Faktoren (objektiv) für die Fahreigenschaften:
–    vorgegebene Geometrie,
–    Steifigkeit/Elastizität (in alle Belastungsrichtungen)
–    Beschaffenheit der Laufräder (Rundlauf, Reifenprofil, Luftdruck usw.),
–    Leichtgängigkeit der Lenkung,
–    die Gewichtsverteilung.

Die herausragenden Kriterien bei der subjektiven Beurteilung der Fahreigenschaften:
–    Geradeauslauf,
–    Kurvenverhalten,
–    Steifigkeit (sowohl beim Antritt als auch in dynamischen Fahrsituationen),
–    Fahrkomfort (ggfs. Geländegängigkeit/Federung),
–    Wiegetrittverhalten.

Bei motorisierten Fahrzeugen (z. B. Pkw) gibt es für Kriterien wie Wendigkeit, Geradeauslauf usw. objektive Maßstäbe und Messmethoden. Beim Fahrrad sind lediglich die “bestimmenden Faktoren“ objektiv messbar. Die Kriterien zur Beurteilung der Fahreigenschaften unterliegen auf Grund der intensiven Wechselwirkung zwischen Mensch und Fahrrad weitgehend subjektiven Eindrücken. Zwar gibt es Möglichkeiten des objektiven Erfassens solcher Fahrdaten (z. B. Slalomtest), deren Auswertungsergebnisse aber häufig im Gegensatz zu den subjektiven Einschätzungen stehen. So kommt es beispielsweise vor, dass ein Fahrrad von einem Benutzer gleichzeitig als hervorragend wendig und mit tollem Geradeauslauf beschrieben wird. Nach objektiven Kriterien kann nur das eine oder andere zutreffen, aber nicht beides zusammen. Eine solche subjektive Beurteilung sollte man dann auch so verstehen, dass die betreffende Person mit dem Gesamteindruck zufrieden ist.
Steifigkeit ist sowohl eine subjektive als auch eine objektive Größe: Wenn ein Mensch einen bestimmten Rahmen als besonders steif bzw. elastisch beurteilt, obwohl objektiv nachweisbar das Gegenteil der Fall ist, so scheint dies ein unvereinbarer Widerspruch zu sein. Dieser Widerspruch lässt sich dadurch  “entschärfen“, dass man subjektives Empfinden und objektive Faktoren als zwei unterschiedliche Ebenen versteht. Beim subjektiven Empfinden spielen psychologische Zusammenhänge (z. B. situationsbezogene Wahrnehmung, Image eines Produkts, Gesamteindruck usw.) eine wichtige Rolle. Ein anderes Beispiel für den Einfluss der Psychologie sind optische Eindrücke: So wird beispielsweise häufig auf Grund einer tollen Optik auch auf eine gute Konstruktion mit entsprechend guten Fahreigenschaften geschlossen. In vielen Fällen fehlen den Nutzern auch Vergleichsmöglichkeiten.

In vielen Streitgesprächen zum Thema Bewertungskriterien fällt der Satz: „Der Mensch gewöhnt sich an vieles“. Zweifellos gewöhnen wir Menschen uns selbst an Unangenehmes. Manchmal halten wir sogar daran fest. Hier helfen keine Argumente. Am ehesten überzeugen in solchen Fällen Erfahrungen. Wer durch (vergleichende) Testfahrten einmal bestimmte Fahreigenschaften als eindeutig positiv/besser erlebt hat, wird dies schnell zum neuen Maßstab erheben und kaum mehr verstehen, wie er sich an das “Schlechtere“ hat gewöhnen können.

Gewichtsverteilung
Durch Veränderung der Sitzposition und beispielsweise auch bei Zuladungen können sich die Fahreigenschaften drastisch verändern, vor allem dann, wenn sich die Gewichtsverteilung auf die Laufräder verändert. In Fällen von Zuladung sollte deshalb der Rahmen dafür konstruiert sein bzw. nach entsprechenden Vorgaben (große Seitensteifigkeit, langer Hinterbau, Gepäckträgeranbringungsmöglichkeit) ausgewählt werden. Rahmen mit niedrigem Durchstieg, MTB „Race Bikes“, Downhillboliden, Rennrahmen usw. erfüllen diese Vorgaben in der Regel nicht!

MERKE:    Grundsätzlich sollten bei der Beurteilung der Fahreigenschaften die Daten und Zahlen nicht überbewertet werden: Den Unterschied von 1 – 2 cm im Radstand, 3 mm mehr oder weniger Nachlauf usw. wird kaum jemand spüren. Spürbar bzw. von Bedeutung sind dagegen Veränderungen wie beispielsweise ein bis zwei Grad Sitzrohrwinkel, 2 – 3 cm längerer Hinterbau, 1 – 2 cm Rahmenhöhe oder Oberrohrlänge. Wenn ein Rahmen nicht gerade für aktive RadsportlerInnen vorgesehen ist, würde ich im Zweifelsfall immer zu der Variante raten, die für „gutmütigere“ Fahreigenschaften sorgt.